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Mehr als die Summe der Teile

  • Autorenbild: INNSEL
    INNSEL
  • 7. Okt.
  • 6 Min. Lesezeit
Türschild mit Aufschrift ‚Geschlossen wegen Mitarbeitendenmangel‘ – Symbol für Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft


Warum multiprofessionelle Teams die Zukunft der Sozialen Arbeit sind

Kaum ein anderes Arbeitsfeld spiegelt gesellschaftliche Veränderungen so unmittelbar wie die Offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA). Hier verdichtet sich, was die Sozialforschung seit Jahren beschreibt: Die Lebenslagen junger Menschen werden komplexer und diverser, Krisen überlagern sich, soziale Ungleichheit wächst. Fachkräfte sollen all das gleichzeitig auffangen, begleiten und gestalten.

Diese Entwicklung ist kein Zeichen des Scheiterns, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Transformation. Sie zeigt, dass klassische Strukturen an ihre Grenzen stoßen. Die Soziale Arbeit steht damit vor der Aufgabe, Komplexität nicht zu reduzieren, sondern professionell mit ihr umzugehen. Die Antwort

darauf lautet Multiprofessionalität und immer häufiger: Co-Kreation.


Komplexität verstehen – Vielfalt gestalten

Multiprofessionelle Teams verbinden unterschiedliche Perspektiven und Wissenslogiken: sozialpädagogische, psychologische, kulturelle, administrative und zunehmend auch digitale. Diese Vielfalt ermöglicht, die Lebenswelten junger Menschen differenzierter zu verstehen und sie in ihrer individuellen Realität zu begleiten.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ, 2023) bezeichnet Multiprofessionalität als zentrales Qualitätsmerkmal der Kinder- und Jugendhilfe. Nur dort, wo Professionen systematisch zusammenarbeiten, können Einrichtungen angemessen auf die sozialen und emotionalen Anforderungen junger Menschen reagieren. Das Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe, 2023) bestätigt: Teams, die unterschiedliche Kompetenzen und Rollen bewusst integrieren, arbeiten nicht nur wirksamer, sondern auch stabiler.

Klumpe (2025) zeigt am Beispiel der Ganztagsbildung, dass Vielfalt nicht zu Beliebigkeit führt, sondern bei klaren Strukturen zu höherer Qualität. Kinder und Jugendliche erleben mehr Kontinuität, Beziehungen werden tragfähiger, und Einrichtungen reagieren flexibler auf Krisen.

Multiprofessionalität ist damit kein Organisationsprinzip, sondern eine Haltung: Sie steht für das gemeinsame Gestalten in komplexen Systemen mit dem Ziel, soziale Realität nicht zu vereinfachen, sondern sie zu verstehen und produktiv zu bearbeiten.


Biografische Diversität als Ressource

Wir verstehen Multiprofessionalität nicht nur als Verbindung verschiedener Professionen, sondern auch als Öffnung gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen und Erfahrungen. Menschen aus Handwerk, Kultur, Bildung oder Verwaltung bringen wertvolle Kompetenzen in die Soziale Arbeit ein oft über Umwege, über Ehrenamt oder persönliche Neuausrichtung.

Diese biografische Vielfalt schafft neue Formen von Nähe, Sprache und Glaubwürdigkeit. Sie ermöglicht Zugänge für Menschen, deren Bildungsbiografien nicht dem klassischen akademischen Wegen folgen, und öffnet Räume für Personen, die aufgrund sozioökonomischer Benachteiligung oder nicht anerkannter Abschlüsse bisher keinen Zugang zu sozialpädagogischen Berufsfeldern hatten.


Diversität als Qualität: Unterschiedliche Erfahrungen sind kein Widerspruch zur Professionalität, sondern deren Voraussetzung.


Multiprofessionalität wird so zu Diversitäts- und Gerechtigkeitsarbeit. Sie erweitert Perspektiven, macht Organisationen lernfähiger und trägt zur Demokratisierung Sozialer Arbeit bei nicht, indem sie über Teilhabe spricht, sondern indem sie sie praktisch ermöglicht.


Qualität durch geteiltes Wissen

Forschung zur Team- und Organisationsentwicklung (nifbe, 2023; Speck, Olk & Stimpel, 2020) zeigt, dass multiprofessionelle Teams als Katalysator für Qualität wirken. Sie fördern Austausch, ermöglichen Reflexion und erhöhen die Anpassungsfähigkeit an komplexe Situationen.

Qualität entsteht dort, wo verschiedene Expertisen nicht nebeneinanderstehen, sondern in co-kreativen Prozessen miteinander verbunden werden. Wissen wird geteilt, Verantwortung verteilt, Belastungen abgefedert. Das stärkt Teams, reduziert individuelle Überforderung und erhöht die Wirksamkeit sozialer Arbeit.

Multiprofessionalität ist damit nicht nur eine Organisationsform, sondern eine Form von Risikoprävention: Sie sorgt für Stabilität, wo Einzelne an Grenzen stoßen, und schafft Räume für gemeinsames Lernen.


Fachkräftemangel als Brennglas

Der Fachkräftemangel wirkt wie ein Brennglas auf diese Entwicklungen. Dexheimer (2024, 2025) beschreibt ihn nicht als bloßes Personalproblem, sondern als strukturelles Symptom einer zu engen Definition von Professionalität. Starre Fachkräftegebote und hierarchische Qualifikationslogiken erschweren den Zugang zum Feld und mindern die Handlungsfähigkeit vieler Einrichtungen.

Er plädiert für ein kompetenzbasiertes Verständnis von Professionalität: Nicht der Abschluss allein, sondern die Fähigkeit, in komplexen Situationen reflektiert und verantwortungsvoll zu handeln, bestimmt Qualität. In dieser Logik sind Quereinsteiger*innen keine Ersatzkräfte, sondern eine funktionale Erweiterung professioneller Teams.

Sie übernehmen Aufgaben, die keine vollständige Fachkraftqualifikation erfordern, und unterstützen Fachkräfte dort, wo organisatorische, technische oder alltagspraktische Anforderungen von der eigentlichen sozialarbeiterischen/pädagogischen Arbeit ablenken würden. Dadurch entsteht Raum für jene Tätigkeiten, die ausschließlich ausgebildeten Fachkräften vorbehalten bleiben: etwa pädagogische und sozialarbeiterische, personelle und strategische Planung, Krisenprävention und -intervention, professionelles Handeln auf theoriegestützter Basis sowie die Repräsentation und fachliche Argumentation Sozialer Arbeit nach außen.


Quereinsteiger*innen ergänzen und entlasten, übernehmen aber in der Regel keine Leitungs- oder Verantwortungsrollen. Sie bringen vielfältige berufliche, kulturelle und lebensweltliche Kompetenzen ein und werden im Rahmen des Lehrgangs gezielt in pädagogischem Basiswissen geschult. So entstehen Mitarbeitende, die deutlich mehr sind als Hilfskräfte; sie werden zu komplementären Akteur*innen einer reflektierten, teamorientierten Sozialen Arbeit.


Diese Aufgabenteilung führt, so Dexheimer im Podcast „IdeeQuadrat – Fachkräftemangel Episode 2: Eine Chance für Professionalisierung?“ (2025), nicht zu einer Schwächung der Profession, sondern zu ihrer Stärkung: „Entlastung ermöglicht Qualität, weil Menschen wieder das tun können, wofür sie eigentlich ausgebildet sind.“


Damit verschiebt sich die Perspektive auf Quereinstieg grundlegend: Er ist kein Zeichen von Deprofessionalisierung, sondern Ausdruck eines systemisch erweiterten Professionalitätsverständnisses.


Quereinstieg als strukturierte Professionalisierung

In der Gesamtstrategie Fachkräfte in Kitas und Ganztag (BMFSFJ, 2024) wird betont, dass Fachkräftegewinnung nur gelingt, wenn Durchlässigkeit und Qualität zusammengedacht werden. Genau hier setzt der von uns entwickelte Lehrgang „Dein (Quer-)Einstieg in die Offene Kinder- und Jugendarbeit“ an, umgesetzt mit der Akademie der Jugendarbeit Baden-Württemberg und der AGJF BW.

Der Lehrgang verbindet Theorie, Praxis und Selbstreflexion zu einer praxisnahen, co-kreativen Qualifizierung. Teilnehmende erwerben beispielsweise grundlegende Kompetenzen in Lebensweltorientierung, Partizipation, sozialräumlichem Arbeiten und digitaler Kompetenz. Kollegiale Lerngruppen, Coaching und ein Praxisprojekt sichern den Transfer.


Lehrgang auf einen Blick:

Offizielle*r Träger*in: Akademie der Jugendarbeit BW & AGJF BW

Fachliche Entwicklung & Begleitung: INNSEL – Kolb & Zinkel-Camp

Laufzeit: ca. 7 Monate

Umfang: 17 Kurstage, Praxisprojekt, Selbstlernphasen, Fachgespräch

Nächster Start: November 2025 in Stuttgart, April 2026 in Ravensburg


Qualität sichern, Durchlässigkeit schaffen

Die Qualität des Lehrgangs wird durch ein enges System von Reflexion, Evaluation und standardisierten Prüfungsformen gesichert. Damit wird Professionalität anschlussfähig für Menschen mit verschiedenen beruflichen Biografien und für Einrichtungen, die nachhaltige Qualifizierungswege suchen.

Wir verstehen Quereinstieg als systematische Professionalisierung. Menschen, die ihre Erfahrungen, Lebenskompetenzen und Werte in die Soziale Arbeit einbringen, erweitern den professionellen Blick und stärken Teams in ihrer Vielfalt. Multiprofessionalität wird so zu einem Prinzip nachhaltiger Fachkräfteentwicklung.


Leitung als Ermöglichungsraum

Co-Kreation braucht Führung, die Vertrauen ermöglicht und Verantwortung teilt. Leitung in der Sozialen Arbeit bedeutet heute, Rollen zu koordinieren, Reflexion zu fördern, Konflikte zu bearbeiten und gleichzeitig fachliche Standards zu sichern.

In unseren Seminaren wie „Leiten in multiprofessionellen Teams“ oder „Arbeiten in Vielfalt“ verbinden wir wissenschaftliche Modelle mit praxisnahen Methoden. Wir verstehen Leitung als Rahmungskompetenz, als Fähigkeit, Räume für Kooperation zu gestalten.


Digitalisierung als Co-Kreationsraum

Digitalisierung verändert auch, wie soziale Teams denken, arbeiten und lernen. Künstliche Intelligenz kann Routinen übernehmen, Daten analysieren oder Verwaltungsprozesse erleichtern. Doch der eigentliche Mehrwert entsteht, wenn Technologie co-kreativ genutzt wird, als Werkzeug gemeinsamer Gestaltung und Reflexion.

In unseren Formaten Digital.Basics und KI-Kompetenz in der Sozialen Arbeit zeigen wir, wie Fachkräfte digitale Tools reflektiert, ethisch und menschengerecht einsetzen können. So wird Digitalität nicht zum Selbstzweck, sondern zur Ressource für Beziehungsarbeit, Wissenstransfer und Innovation.


Von der Ausnahme zur Struktur

Wenn Multiprofessionalität, Diversität, Co-Kreation und Digitalisierung zusammengedacht werden, entsteht eine neue Form sozialer Organisation: lernend, resilient, zukunftsfähig. Teams werden beweglicher, Fachkräfte selbstwirksamer, Organisationen anpassungsfähiger.

Das ist kein Sparprogramm, sondern Ausdruck professioneller Weiterentwicklung. Soziale Arbeit braucht keine starren Zuständigkeiten, sondern die passende Kompetenz an der richtigen Stelle: gestützt durch Bildung, Reflexion und den Mut, tradierte Grenzen zu überschreiten.

Wir bei INNSEL verstehen uns in diesem Wandel als Partnerin. Wir entwickeln Formate, die wissenschaftlich fundiert, praxisnah und zugleich zukunftsorientiert sind.


Fazit: Co-Kreation ist die neue Professionalität

Multiprofessionelle Teams sind kein Symbol der Krise, sondern Ausdruck einer lernenden Profession. Qualität entsteht dort, wo Unterschiedlichkeit aufeinandertrifft und Neues entstehen darf.

Wenn Fachkräfte, Quereinsteiger*innen und Leitung gemeinsam Verantwortung tragen, wenn Wissen geteilt und Praxis reflektiert wird, wird Soziale Arbeit zu dem, was sie im Kern immer war: ein co-kreatives Handlungsfeld.


„Nicht die Titel machen die Qualität, sondern die Fähigkeit, gemeinsam professionell zu handeln.“

(nach Dexheimer / Rothballer 2024)

 

Literatur & Quellen

AGJ (2023): Auf gute Zusammenarbeit in der Ganztagsbildung! Qualität durch Multiprofessionalität. Berlin.

BMFSFJ (2024): Gesamtstrategie Fachkräfte in Kitas und Ganztag. Berlin.

Dewe, B. & Otto, H.-U. (2011): Professionalität und soziale Gerechtigkeit. Wiesbaden: Springer VS.

Dexheimer, A. / Rothballer, M. (2024): Abschied vom Fachkräftegebot – Ein kompetenzbasierter Ansatz für die Kinder- und Jugendhilfe. In: Dialog Erziehungshilfe 3/2024.

Dexheimer, A. (2025): Fachkräfte(mangel) in der Kinder- und Jugendhilfe – Perspektiven für die Professionalisierung.In: Jugendhilfe 1/2025.

Klumpe, B. (2025): Multiprofessionelle Teams in der Kita. In: Kita-Fachtexte 2/2025.

nifbe (2023): Gelingensbedingungen multiprofessioneller Kooperation in der Ganztagsbildung. Osnabrück.

Oelerich, G. / Hengstenberg, H. (2022): Das Fachkräftegebot nach § 72 SGB VIII. In: Evangelische Zukunft Wohlfahrt 64(1).

Scherr, A. (2020): Soziale Arbeit und soziale Ungleichheit. Eine professionssoziologische Perspektive. Weinheim: Beltz Juventa.

Senge, P. (2019): The Fifth Discipline: The Art & Practice of the Learning Organization. New York.

Speck, K. / Olk, T. / Sltimpel, U. (2020): Auf dem Weg zu multiprofessionellen Organisationen? Beltz Juventa.

Wenger, E. (2011): Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity. Cambridge University Press.

Jugendakademie Baden-Württemberg (2025): Lehrgang „Dein (Quer-)Einstieg in die Offene Kinder- und Jugendarbeit“www.jugendakademie-bw.de

 

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